Ausstellung: 30 Jahre Atelierhaus des Bonner Kunstvereins, Dorotheenstraße 99, 53111 Bonn, 21.+22. September 2024
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Ausstellung: Draw a distinction, Kunstverein Münsterland e.V., 17. September bis 29. Oktober 2023 Virtueller Rundgang
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Ausstellung: IN BETWEEN II, Galerie Kautsch, Michelstadt, bis zum 30. April 2021 Download: Einladung
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Ausstellung: Raum ist Partitur, Künstlerforum Bonn, 26. September bis 8. November 2020 Download: Einladung
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Kunst am Bau: Ergänzungsauftrag, Deutscher Bundestag - Wilhelmstraße 64 (Fertigstellung 2021)
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Interview: Norvin Leineweber im Gespräch mit Franz Joseph van der Grinten, Oberhausen VfaK 2012
[vimeo.com/80443708]
[vimeo.com/80443708]
Zu den Arbeiten von Norvin Leineweber
Drei Textausschnitte
1. Susannah Cremer-Bermbach
Konkrete Form, durch ein Temperament gesehen
Über Blick- und andere Winkel.
Es geht um Sehen.
Basisvermögen, existentiell, unverzichtbar. Im Leben. In der Kunst. Immer Thema und
somit kein Thema, eigentlich.
Also präziser: Es geht um die »Intelligenz des Sehens«, um erkennendes, das heißt auf
das Empfangen, Bewahren und Verarbeiten von Tatsachenmaterial bezogenes Sehen,
»Anschauliches Denken«. Es geht um das »Wahrnehmungsbild« als das nach Auswahl
und Konkretisierung in unser Bewußtsein dringende Bild von Realität. Es geht, mit Nor-
vin Leinewebers Worten, um die »Natur des Sehens« und die »Kultur des Sehens«.
Die Beschäftigung mit Wahrnehmung als einer aktiven und schöpferischen Kraft
des Geistes zum Leitfaden künstlerischer Ausdrucksformen zu wählen, bedarf eines
Antriebs von beharrlicher Leidenschaft, die sich nicht schon in der Vorherrschaft des
Geistes erschöpft, sich vielmehr mit ihm auflädt, um ihn mit sublimer Sinnlichkeit in Er-
scheinung zu bringen. Der Weg dorthin ist eher unspektakulär. Seine Kenntnisse hat
Leineweber systematisch erworben und traditionell durch Quellenstudien vertieft.
Menschliches Sehen ist immer räumliches Sehen. Mittels optischer Gesetze läßt
sich der Vorgang physikalisch erklären. In Anlehnung an diese steht dem Künstler die
Zentralperspektive zur Verfügung, die ihn befähigt, auf einer Fläche etwas so darzu-
stellen, daß es vom menschlichen Auge als Abbild des Raumes wahrgenommen wird.
Keine Entdeckung löste in der Geschichte der abendländischen Kunst eine größere
Umwälzung und bis heute wirksame Revolution aus. Das Faszinosum räumlicher Dar-
stellung offenbart sich besonders eindrucksvoll in jenen Werken, die mit der soeben
erlangten Souveränität im Umgang mit zentralperspektivischen Regeln das Staunen
über diese Fertigkeit bezeugen, die es den Künstlern so plötzlich ermöglichte, ihre
kühnsten Visionen wirklichkeitsnah vor Augen zu führen. Meister der Frührenaissance
wie Uccello, Mantegna, della Francesca, Donatello haben dieser geistigen Erschütte-
rung in gewagten, manchmal übertriebenen Perspektivdarstellungen ein eindrucks-
volles Denkmal geschaffen. Ihre Werke sind unerschöpfliche Inspirationsquellen, Er-
findungen oder philosophischen Texten vergleichbar. Oder: dem Blick aufs Meer.
(...)
(in: Norvin Leineweber – Reliefs, Emmerich 2000)
2. Dieter Mersch
Die Gegenwart der Sichtbarkeit
zu den Präsenzfeldern von Norvin Leineweber
(...)
Es ist kein Zufall, dass eine der maßgeblichen Strategien dafür die äußerste Reduk-
tion ist. Leineweber steht in der Tradition solcher Verfahrensweisen, die sich wei-
gern, dem Auge etwas Spezifisches oder Spektakuläres zu sehen zu geben; vielmehr
beruhen die Praktiken des Künstlers auf der Askese, wozuder Verzicht auf Farbigkeit
sowie Wiederholung und Variation zählen. So entfaltet die Serie das Spiel von Wie-
derholung und Variation durch die Differenz: ein Knick, eine Linie, eine Wölbung, eine
Krümmung, eine gebrochene Gestalt usw., die sich in die Fläche einzeichnen und sich
im Übergang zur nächsten Figur nur unmerklich verändern, sodass man immer wieder
zurückkehren, den Blick wenden, Vergleiche ziehen und das Auge neu justieren muss.
Was ist daran interessant ? Sucht man nach formalen Vorbildern, lassen sich die Arbei-
ten Leinewebers sicherlich in den großen Strom des Minimal einordnen — jenem
Nichts-zu-sehen, oder besser: Nichts-Bestimmtes-zu-sehengeben, kein Motiv, keine
Gestalt, keine Abstraktion, lediglich die Einfachheit der Fläche und ihre Farbe, manch-
mal eine Linie, unterschiedliche Felder, einfache Transformationen — mehr nicht. Man
kann auf Barnett Newman und Yves Klein verweisen, auf die schwarzen Farbtafeln Ad
Reinhardts oder die White Paintings Robert Rauschenbergs sowie die vielen Variatio-
nen von Weiß im Sinne der Achromien, wie Piero Manzoni seine halbreliefartigen und
materialhaft punktierten Bildflächen nannte, um anzudeuten, dass sie farblos bleiben,
oder auch auf die ins Räumliche ausgreifenden Farbraumkörper Gotthard Graubners
und die verschiedenen Nagelbilder von Leinewebers Lehrer Günther Uecker.
Norvin Leineweber knüpft gewiss an diese Tradition an, setzt sie aber auf eigenwillige
Weise fort, fügt anderes hinzu. Denn es sind nicht einfach die Leere oder die bloße Ma-
terialität der Farbe, das Nichts und der Überschuss, die ihn faszinieren, sondern die
Gesten einer minimalen Differenzsetzung, die in der Fläche den Eindruck von Räumli-
chem und im Räumlichen die Wirkung einer Instabilität hervortreten lassen. Raum ist,
anders als die stets diskrete Zeit, mit Kontinuität und Gegenwart assoziiert, mit dem
Körper und seinen leiblichen Orientierungen, der sich im Raum aufhalten und sich zu
ihm verhalten muss. Oben — Unten, Innen — Außen, Nähe — Ferne usw. sind elemen-
tare Schemata, wofür das Sehen und seine Blickordnungen eine wesentliche Rolle spie-
len. Leineweber bringt sie durcheinander: Eine riesige gewölbte Fläche entstellt unse-
ren Bezug zur Wand und scheint uns in sie einzusaugen; eine Gegenüberstellung von
Einfaltung und Ausfaltung verwirrt die Erkennbarkeit der Perspektive und lässt das Ge-
fühl des Ortes schwinden, unvollständige Kanten und Ecken verleihen den Objekten
eine diffuse räumliche Präsenz usw. Immer sind es Andeutungen, Lücken, winzige Brü-
che und Ähnliches, wobei es nicht auf die Geste der Irritationen selbst ankommt, son-
dern darauf, was sie sinnlich bewirken.
(...)
(in: Norvin Leineweber – Präsenzfelder, Bremen 2008)
3. Thomas Appel
Exzerpte
(...)
Dagegen wirken die Exzerpte wie bedächtige Gehversuche auf unsicher gewordenem
Terrain. Perspektive und Schwerkraft scheinen zunächst außer Kraft gesetzt. Dreidi-
mensionalität muss ohne Körper auskommen und die strahlend-weiße Unendlichkeit
droht die kapillaren Fasern auszublenden. Werden einzelne Gerüstteile zu geometri-
schen Binnenformen gekoppelt, so bleibt deren Verortung im Bildraum vage. Die gene-
relle Offenheit der Gefüge und die in unterschiedlichen Höhen ansetzenden Linien sig-
nalisieren Veränderbarkeit und Bewegung. Fehlt die den Vertikalen als optische Basis
dienende Bodenebene völlig, entstehen prekäre "Hängekonkruktionen", die in einem
eigentümlichen Schwebezustand noch zu erwartender Vollendung der Zeichnung ver-
harren. Bwegung und Dynamik werden vor allem durch das Neben- und Übereinander
gegenläufiger Vektoren erzeugt wobei die verselbständigten Kompartimente ─ einem
unaufhörlichem Verwerfungsprozess unterworfen ─ sich scheinbar gegenseitig aus dem
Bildfeld herausdrängenwollen. Diese mitunter akzentuierten Raumverspannungen schär-
fen den Blick des Betrachters für mögliche Neuorientierungen der Bildkomponenten in-
nerhalb des Aktionsquadrates und darüber hinaus. Gleichzeitig fluktuiert ihr Erschei-
nungscharakter unablässig: Berührungspunkte werden zu Druckstellen, Linien stehen
unter Belastung, erscheinen liegend, stehend, lastend, schwebend, hängend; Flächenfor-
mendehnen sich aus, ziehen sich zusammen.
Diese präzise und ruhig gesetzten, gleichmäßig verlaufenden Linien vermögen ihre Selbst-
verständlichkeit nicht dem Umraum mitzuteilen. Vielmehr sind alle bildnerischen Mittel
aufgeboten, um eime ambivalente Räumlichkeit zu erzeugen, die weder Fläche noch Tiefe,
weder Bühne noch Fenster bedeutet. Wir erleben Raum als ständige In-Frage-Stellung sei-
ner selbst und dessen, was sich in ihm aufzubauen sucht. Diese, die Gesamtheit der bild-
nerischen Mittel kennzeichnende Relativitäöt der Erscheinungsformen erzeugt ständige
Ungewissheit, eröffnet aber zugleich ein weites Feld assoziativer Auslegung wie rein form-
aler Betrachtung. Je weniger es gelingt, sich ein definitives Bild zu machen, umso erfolgrei-
cher wird unsere Wahrnehmung freigesetzt und umso mehr Raum lassen diese fluktuier-
enden Wirklichkeiten für eine Reflexion über die Natur des Sehens.
Leinewebers Raumpantomimen wirken karg, verhalten und zunächst scheinbar ausdrucks-
los. Das konsequente Understatement ihrer Zeichensprache jedoch zwingt uns zu aktiver
interpretatorischer Auseinandersetzung und ermöglicht Einsichten in die fundamentale
Grammatik des Raums.
(in: Norvin Leineweber – Exzerpte, St. Augustin 1997)